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Paris wird als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Aber man vergisst, dass das auch für die Musik gilt. Dabei hat vor allem Richard Wagner dort sein Rüstzeug erworben, vor allem bei Berlioz.

Paris – schön und gut. Oder besser gesagt: großartig und wunderbar. Aber wie klingt es? Hat es überhaupt einen bestimmten, unverwechselbaren Klang? So wie es ja zweifellos einen spezifischen Geruch hat, in der Metro zum Beispiel, nach dem manche Leute geradezu süchtig sind.

 

Na, und erst die Farben! Das silberne Band der Seine, das sich durch ein Häusermeer in Ocker-, Schiefer-, Perlmuttönen zieht, ein Häusermeer, das sanft emporsteigt bis hinauf zur Kirche Sacré Cœur in ihrem morosen Elfenbeinton. Und immer wieder auch die grünen Inseln der Parks und Gärten. Im Sonnenlicht schimmern sie wie Baldachine von Smaragd. Schon klar, Paris, das ist ein Fest fürs Leben, weil es ein Fest der Sinne ist. Aber auch in akustischer Hinsicht?

In René Clairs Kultfilm " Unter den Dachern von Paris" von 1930 spielen in den Höfen Drehorgelmänner ihre melancholischen Walzer, und bis in die Neunzigerjahre drang tatsächlich aus Pariser Cafés jenes Akkordeon, das in den Chansons von Edith Piaf, Charles Trenet oder Jacques Brel eine so große Rolle spielt. Chansons, in denen diese ganze Padam-Padam-Padam-Musik des „Bal Musette“ aufbewahrt war, die ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Aber heute? In einem Paris, vor dem die Globalisierung so wenig haltmacht wie vor den anderen Metropolen der westlichen Welt?

 

Der Fünf-Töne-Jingle, der auf Flughäfen und Bahnhöfen erklingt, bevor eine Ansage gemacht wird, ist doch nur ein schwacher Nachhall dessen, was einst an melodiösem Geräusch Paris erfüllte. Und auch mit dem dezenten Ausrufen der Metrostationen à la „Saint Germain des Prés?“ (die Stimme geht rauf) hin zu „Saint Germain des Prés!“ (die Stimme geht runter) hat man zwar eine originelle Tonvariante zu den Fragen gefunden, die jeder Passagier sich stellt („Muss ich jetzt raus? Ja, jetzt muss ich raus!“). Aber als Klangerlebnis ist das doch alles ein wenig karg.

 

                                              Fischerkähne tuten

 

 

Um 1900 war das noch ganz anders. Da muss die Stadt so faszinierend getönt haben, dass die damals aktuelle naturalistische Oper nicht müde wurde, auf den "Klang von Paris"* zurückzugreifen, dem jetzt der Musikschriftsteller und ehemalige Musikkritiker der „Zeit“, Volker Hagedorn, eine faszinierend facettenreiche Studie widmet (Rowohlt, 410 S., 24, 95 €).

Zwar kommen bei ihm die tutenden Fischerkähne auf der Seine, die Puccini  in seinem Einakter „Der Mantel“ musikalisch verewigt hat, genauso wenig vor wie die großstädtischen Klangfetzen, von denen das Liebespaar in Charpentiers „Louise“ umweht wird, wenn es sich nach gehabtem Tanzvergnügen auf den Heimweg den Montmartre hinauf macht.

 

Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, wie Walter Benjamin es genannt hat, war, was man gern vergisst, auch die Kapitale der Musik. Vor allem der Oper wurde im Zweiten Kaiserreich ein wahrer Tempel, die Salle Garnier, errichtet (die allerdings erst nach dem Sturz Napoleons III. im Jahr 1875 vollendet wurde).

In der Opéra Comique, die sich seit 1783 dort befindet, wo sie nach wie vor steht, wurde der Klassiker schlechthin des französischen Repertoires uraufgeführt (Bizets „Carmen“) und im Théâtre Lyrique (heute Théâtre de la Ville, gegenüber vom Châtelet) hob man jene wunderbar melodienseligen, hinreißend raffiniert instrumentierten „Perlenfischer“ von Bizet, „Faust“, „Mireille“, „Roméo et Juliette“ von Gounod aus der Taufe, die heute auch endlich wieder zur Geltung kommen.

 

Näher an der Pariser Wirklichkeit jener Jahre, an den Turbulenzen und Kapriolen einer sich zunehmend industriealisierenden, sich politisch ausdifferenzierenden Gesellschaft sind freilich die vor Spott, Frechheit, Frivolität nur so sprühenden Operetten des Jacques Offenbach.

Wie dieser Jude aus Köln die Julimonarchie und das Zweite Kaiserreich aufmischte, aus welchem geistigen Klima er seine Anregungen bezog und wie er zurückstrahlte mit seinen Travestien auf ein zunehmend im Modus der Selbstironie um sich selbst kreisendes urbanes Publikum – das hat seinerzeit bereits Siegfried Kracauer, den am wenigsten dogmatischen Vertreter der berühmt-berüchtigten Frankfurter Schule, zur Darstellung gereizt.

Von Kracauers Verfahren, Musikgeschichte als Gesellschaftsgeschichte zu erzählen, profitiert auch Hagedorns Buch. Doch hat er Kracauer ganz entschieden das profunde musikologische Wissen voraus.